Brigida und der Clown

Kirsten Karneol

Leseprobe: Brigida und der Clown

Prolog, Mai 2014

Gleichförmig plätschert der Fluss durch städtische Auen, rinnt über Kies und Sand und Geröll und flutet an den Ufern das Gras, das längst die schlammbraune Farbe des Wassers angenommen hat. Dahinter die baumlosen Auenwiesen, bedeckt mit kargem Gestrüpp und schmucklosen Gewächsen. Eine Landschaft, die stumme Beständigkeit ausstrahlt, die andererseits jedoch auch für Belanglosigkeit steht.

Seit Jahren führt mich mein Weg tagtäglich hier an dieser Stelle vorüber. Nichts an dieser öde erscheinenden Landschaft hatte mich bisher je beeindruckt, mich gar innerlich berührt, bis zu jenem gewöhnlichen Frühsommernachmittag. Alles sah aus wie immer, und doch tönte das mir so geläufige Rauschen des Flusses, das flüsternde Rascheln des Grases, das Surren des Windes auf einmal fremdartig genug, dass ich aufmerksam wurde.

Ich wandte mich also um und tatsächlich entdeckte ich etwas, das die Landschaft um mich herum auf eigentümliche Weise ergänzte. Eine Malerin hatte mitten auf der Wiese in der Nähe des Flussufers ihre Staffelei aufgestellt. Ich blickte im Vorübergehen über die Schulter der Künstlerin, die mir den Rücken zukehrte, auf das von ihr bestimmt schon vor Stunden begonnene Bild, dem sie soeben einige feine Striche hinzufügte. Es war mühelos zu erkennen, dass sie den Fluss malte mit seinen bräunlich-schlammigen Wasserfluten sowie ferner die graugrünen Grasbüschel am Ufer, gefolgt von dem saftig grünen Wiesengras in Richtung der Auenmitte.

Automatisch verlangsamte ich meine Schritte, wurde meiner eigenen Verwunderung darüber gewahr, dass jemand diese mir so unerheblich erscheinende Szenerie für würdig genug befand, sie zu zeichnen. Liebevoll strichelte die Frau an der Staffelei die vertrockneten Grashalme aufs Papier, wischte hier mit einem Tuch ein wenig fort, verstärkte dort eine farbige Linie, fügte hernach sogar die kleinen gekräuselten Wasserstrudel in der Flussmitte ihrem Bild hinzu.

Ich muss wohl einige Zeit dagestanden und geschaut haben, tief versunken in die Betrachtung des mir befremdlich erscheinenden. Denn ich war überrascht, als die Malerin, sie mochte die Fünfzig schon überschritten haben, sich nach mir umschaute, mir zulächelte und für einen Moment den Pinsel in ihrer Hand herabsinken ließ. Doch noch bevor ich etwas sagen konnte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Arbeit zu.

War es dieses Lächeln, das mich ermutigte, meiner plötzlich erwachten Neugier nachzugeben? Ich lief jedenfalls die wenigen Schritte durchs vertrocknete Wiesengras und trat an die Staffelei heran, an der die Malerin hochkonzentriert arbeitete.

»Schön«, sagte ich und deutete auf das Bild.

»Mhm ...«, bestätigte die Fremde.

Es hatte den Anschein, als wäre sie momentan nicht gewillt, mir eine ausführlichere Antwort zuteilwerden zu lassen. Hingebungsvoll malte sie Grashalm um Grashalm.

»Warum malen Sie ausgerechnet hier?«, versuchte ich ein Gespräch in Gang zu bringen.

Jetzt wandte sich die Malerin mir zu, den in einer Mischung aus Ocker und Grün eingefärbten Pinsel auf eine Weise in der Hand haltend, die mir andeutete, dass sie jeden Moment ihre angefangene Arbeit fortzusetzen bereit war.

»Warum ich das hier male?« Die Frau umfasste mit einer einzigen Augenbewegung den ganzen vor uns liegenden Ausschnitt aus der Flusslandschaft. Sie musste mir meine Zweifel angesehen haben.

»Ich weiß«, bemerkte die Malerin. »Das hier ist kein außergewöhnlich schöner Ort. Keiner, den man fotografieren möchte, um sich das Foto ins Album zu kleben. Aber genau hier an dieser Stelle hat einmal etwas begonnen, was später weitreichende Folgen für alle Beteiligten hatte.«

Ich stellte mir nun in meinem Inneren vor, dass dieser Ort in früheren Jahren ganz anders und viel anmutiger gewesen sein musste, als es heute der Fall war. Aber die Malerin schien eine Meisterin des Gedankenlesens zu sein, denn sie schüttelte mit einem feinen Lächeln den Kopf.

»Es hat damals hier alles schon so ausgesehen wie jetzt«, sprach sie. »Aber das tut nichts zur Sache, denn für zwei Menschen war es einmal ein sehr bedeutsamer Ort.«

Ich schaute die Malerin neugierig an und wünschte mir, mehr zu erfahren.

»Es ist eine Liebesgeschichte«, fuhr die Frau fort. »Gut, bestimmt denken Sie jetzt, das ist doch ein reichlich abgedroschenes Thema. Noch dazu, weil diese Geschichte von zwei ganz einfachen Menschen handelt, über die normalerweise niemand je ein Wort verlieren würde. Aber doch war es eine ungewöhnliche Geschichte. Besonders auch, weil man dabei begreift, wie die Ereignisse des Lebens ineinandergreifen und letztlich zu einem Ziel hinführen. Seitdem mir das bewusst wurde, hat es mich nicht mehr losgelassen. Und eben weil ich eine Malerin bin, male ich das, was mich beeindruckt. Schauen Sie hier ...« Die Frau tippte mit dem linken Zeigefinger auf das gemalte Bild. »Sehen Sie hier, dieses Mädchen?«

Ich sah eine dünn mit Bleistift vorgezeichnete Mädchengestalt. Die fragilen Bleistiftstriche verliehen ihr eine beinahe elfenhafte Form. Deutlich zu erkennen war das lange Haar, das weich um die Schultern des Mädchens fiel. Und beim näheren Hinschauen entdeckte ich noch eine weitere, vorerst nur angedeutete männliche Gestalt.

»Dieses Mädchen und dieser Mann, sie hatten beide ein einzigartiges Schicksal«, erklärte die Malerin. Dabei hat auch dieser Platz hier, an dem sie sich begegnet sind, eine besondere Rolle gespielt. Deshalb male ich diesen Ort, verstehen Sie?«

»Ja«, sagte ich. »Ich verstehe.«

»Wenn Sie ein wenig Zeit haben, erzähle ich Ihnen gern die Geschichte«, bot die Malerin bereitwillig an und mir schien, dass hier beiderseitige Sympathie im Spiel war.

»Ja natürlich, ich freue mich, die Geschichte zu hören«, versicherte ich. »Was ist denn nun das Besondere daran?«

Die Malerin wiegte bedächtig den Kopf, und ich las leichtes Widerstreben aus dieser Geste heraus. »Das kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht verraten, dann würde ich das Ende vorwegnehmen«, sprach sie geheimnisvoll. »Sie werden es bald erfahren.« Die Frau lächelte. »Aber andererseits ..., das, was Sie hören werden, ist nicht sehr spektakulär. Mag sogar sein, Sie finden es langweilig. Aber wenn wir es recht bedenken, ist nichts unbedeutend. Gar nichts. Alles, was geschieht, hat eine Bedeutung.« Nachdenklich schaute die Malerin zum Fluss hinüber. »So wie jeder Tropfen in diesem Fluss dort eine Bedeutung hat. Stellen Sie sich diese Geschichte also so vor, als handelte es sich um viele einzelne Wassertröpfchen. Jedes für sich genommen ist für uns einfache Menschen nicht besonders interessant, aber zusammen ...«

»... ergeben sie einen Fluss«, setzte ich den Satz fort.

»Richtig«, bejahte die Frau mit einem fast unergründlichen Lächeln. »Und alle diese Flüsse fließen am Ende ins Meer.«

Sorgfältig schraubte die Malerin die Deckel ihrer eben noch benutzten Farbentuben zu und stellte den Pinsel in ein eigens dafür bereitstehendes Wasserglas. Dann hieß sie mich, im Gras Platz zu nehmen und begann zu erzählen.

Ich erfuhr daher völlig unerwartet die nicht ganz gewöhnliche Liebesgeschichte zweier Menschen, die sich nach einem schwierigen Start ins Leben unter nicht ganz einfachen Umständen gegenseitig gesucht und gefunden hatten. Ich muss betonen, dass ich nicht nach dieser Geschichte gesucht hatte, sie traf mich vielmehr ganz unerwartet, so wie uns tagtäglich unzählige solcher Geschichten begegnen. Die wenigsten davon gehen uns wirklich nahe und wir vergessen sie mit dem nächsten Herzschlag. Aber das, was diese beiden Menschen erlebt hatten, berührte mich. Ich zweifelte zwar anfangs, ob sich wirklich alles bis ins Detail ganz genauso zugetragen hat, wie es mir die Malerin berichtete. Aber sehr bald verwarf ich diese skeptischen Gedanken, denn es waren ihre Erinnerungen und eigene Erinnerungen sind immer real, ganz gleich, was andere davon halten mögen.

März 1986

23. März 1986, so stand es in großen schwarzen Lettern auf dem Kalenderblatt des Abreißkalenders, der neben dem einfachen Spiegel im Flur hing. Vor diesem Spiegel band sich Brigida mit routinierten Handgriffen wie an jedem Morgen die dunkelblonden Haare zu einem Pferdeschwanz nach oben. Dabei war ihr das eigene Gesicht keinen einzigen Blick wert. Stirn, Brauen, Augen, Nase, ... – alles nichts Außergewöhnliches. Brigida war noch keine Dreißig, aber doch trug ihr Gesicht bereits erste Anzeichen der späteren Jahre, heimliche Vorboten einer Zukunft, die noch in weiter Ferne lag und die sie selbst daher noch nicht bemerkte.

Brigida lebte in E. – einer Stadt mittlerer Größe – im Osten jenes Landes, das man vor Brigidas Geburt erbarmungslos in zwei Teile gespalten hatte. Hierdurch war es für die Bewohner des ganzen Landes erforderlich geworden, den eigenen lebensweltlichen Standortbestimmungen stets die entsprechende Himmelsrichtung hinzuzufügen.

Brigidas östliche Welt war hermetisch umgrenzt. In ihrer Heimatstadt konnten die Alten die Wunden des letzten großen Krieges mancherorts immer noch benennen und auch die darauffolgenden sogenannten Friedenszeiten hatten so manche Spuren hinterlassen. All das aber umrahmte wohlvertraut den Alltag der Menschen, denen hier ihre Existenz beschieden war. Sie alle und auch Brigida nahmen diese Alltäglichkeit mit einer Unerschütterlichkeit hin, die einen vielleicht sogar an Ameisen erinnern mochte.

Nach einem letzten Blick in den kleinen Flurspiegel war Brigida nun gerüstet für den vor ihr liegenden Tag. Sie nahm ihre erdbraune Jacke vom Garderobenhaken – sie passte farblich zur übrigen Kleidung – und schlüpfte hinein. Dann verließ sie ihre im fast noch winterlichen Morgendunkel liegende und leicht nach Tapetenleim riechende Plattenbauwohnung und begab sich in den Treppenflur.

Im Treppenhaus war noch alles ruhig. Doch als Brigida auf dem letzten Treppenabsatz angekommen war, raschelte es verräterisch. Die Nachbarin von links unten war dafür berühmt, dass sie so gut wie niemals schlief. Ihr Fernseher war der Spion an der Tür. Dieser versetzte sie in die Lage, über alles und jeden aus dem häuslichen Umfeld bestens informiert zu sein. Manchmal erschien sie unversehens an der Tür, um die Vorbeigehenden zu begrüßen und ihnen ein Gespräch aufzudrängen. Heute nicht. Über Brigida, die ledige und alleinlebende junge Frau aus der zweiten Etage, gab es selten etwas Interessantes zu erfahren, das nicht schon allen hinlänglich bekannt war.

Als Brigida die Haustür öffnete, schlug ihr kühle Nebelluft entgegen. Die Straßenlaternen waren schon abgeschaltet, Autos glitten fast geräuschlos durch das Morgengrau und auch die Menschen huschten lautlos über die Bürgersteige, auf denen das Streugut des vergangenen Winters kleine schmutzige Häufchen bildete. Brigida beachtete all das nicht. Sie war ein Stadtkind seit eh und je, geübt im Übersehen und Überhören der städtischen Reize. Ihr Ziel war jener Ort, an dem sie in Kürze ihr Tagwerk beginnen musste.

An diesem Ort wurde Brigida von einem heruntergekommenen, windschiefen Bretterhäuschen – einem Verkaufskiosk – erwartet. Brigida sperrte die hölzerne Eingangstür auf und stand unmittelbar inmitten eines beengten, vollgestopften Raumes, in dem es noch ungemütlich kühl war. Geschäftig schob sie die uralte elektrische Heizung unters Fenster, steckte den Stecker in die Steckdose und drückte auf den abgegriffenen Schalter des arg ramponierten Heizgerätes. Und tatsächlich, es ratterte los und versah zuverlässig wie eh und je seinen Dienst.

Nun war der Grill vorzubereiten. Brigida stellte den schwarzverkrusteten Rost beiseite, entfernte die alte Schlacke, warf Holzkohle aus einer Papiertüte in die muldenförmige Öffnung und tat noch ein Stück Grillkohlenanzünder darauf. Zuletzt legte sie den Rost sorgfältig wieder auf. Mehrmals versuchte sie, mit einem Streichholz den Grillanzünder zum Brennen zu bewegen. Aber es glückte ihr nicht. Resolut griff sie nach der Flasche, die in einer Ecke des Raumes auf dem Boden stand: Brennspiritus. Ja, sie wusste, dass Spiritus prinzipiell nichts in der Nähe offener Feuerstellen zu suchen hatte. Aber ein kalter Grill war einfach das größere Übel.

Brigida kippte einen Schwapp der gefährlichen Flüssigkeit über Anzünder und Kohlen, hielt die Streichholzflamme daran und der Fall war erledigt. Natürlich achtete sie wie jedes Mal darauf, dass sie sich selbst möglichst weit von der Gefahrenstelle wegbeugte. Vorsicht war allemal gut. Ein letzter prüfender Blick. Ja, es brannte. Bevor jedoch die Glut für die Rostbratwürste bereit war, würde noch etwas Zeit vergehen.

Währenddessen wischte Brigida einige Krümel von der Tischplatte. Diese stammten vom Vespermahl des Vortages, das sie inmitten des Kundenansturmes eilig zu sich genommen hatte. Sie schüttete einen Kaffeerest aus einer Plastiktasse ins verkratzte Waschbecken und stapelte das benutzte Geschirr neben der Spüle auf. Zum Abwaschen war sie gestern Abend zu müde gewesen. Nun musste das heute erledigt werden, aber dazu war nachher noch Gelegenheit.

Jetzt hatte sie zuerst dringend die in der Früh gelieferte Ware einzusortieren. Brigida trug zwei Kisten mit frischen, aber bereits erkalteten Brötchen in den Raum sowie einen durchsichtigen Plastikbeutel mit grauen Würsten und zog dann drei Obstkisten über die niedrige Schwelle. Sie hob von einer Kiste die Abdeckplane und stellte fest, dass sie Äpfel enthielt. Natürlich, was sonst? Äpfel von minderer Qualität, wie immer.

Prüfend ließ Brigida ihre Augen über die Regale mit den säuberlich aufgereihten Waren wandern: Schnapsflaschen mit abenteuerlichen Etiketten, die Hochprozentiges in grotesken Farbschattierungen enthielten, Bier, Limonade, auch Süßigkeiten und Kekse ...

Brigida hob den Deckel vom Heringsfass, es war leer. Brigida war sich sicher, gestern Heringe bestellt zu haben. Sie untersuchte aufmerksam die gelieferten Waren. Heringe waren nicht dabei. Da schien sich doch nicht etwa wieder einmal ein Lieferengpass aufzutun. Das war an sich nichts Neues, doch die fehlenden Heringe stellten eine Katastrophe dar.

Brigida war so stolz auf ihre Fischbrötchen mit Zwiebelringen und dem besonderen Gewürz, das sie dem Heringssud beifügte. Sie verriet nie, was es damit auf sich hatte, wenn ihre Kundschaft auch noch so sehr in sie drang. Außerdem tat sie immer ein paar Apfelstückchen auf den Hering. Das durfte eigentlich nicht sein und es galt in den Augen ihres Chefs als pure Verschwendung. Aber die Äpfel wollte ohnehin selten einer kaufen. Sie waren klein und schrumpelig.

Dann hob Brigida den Deckel vom Senffass. Um Himmelswillen, auch das Senffass war fast leer. Und es war heute Morgen kein neuer gebracht worden. Es sollte doch wohl nicht neuerdings auch schon Schwierigkeiten in der Senfversorgung geben? Brigida hatte davon noch nichts gehört. Aber wie dem auch sei, Würstchen ohne Senf, da war der Ärger vorprogrammiert, da verstanden die Kunden allesamt keinen Spaß. Brigida wusste genau, dass sie gestern welchen bestellt hatte. Sie kontrollierte flüchtig die fettfleckige Liste mit den bestellten Waren. Ja es stimmte, sie hatte Senf bestellt.

Brigida musste unwillkürlich lächeln. Ringsherum war das schäbige Stück Papier verziert mit eilig hingekritzelten Bleistiftzeichnungen: alberne kleine Männchen, Äpfel, aus denen grinsende Würmer hervorkrochen, ... So etwas fabrizierte sie selbst, wenn ihr langweilig zumute war und sie gerade keine Kunden zu bedienen hatte. Niemand störte sich daran. Die alten Listen wanderten ohnehin am Ende des Tages in den Papierkorb.

Aber nun gab es Wichtigeres. Es war kein Senf da. Und Ketchup war die schlechtere Alternative, die Kunden mochten ihn nicht besonders gern. Sie behaupteten, er schmecke komisch und keinesfalls nach Tomaten. Einige befürchteten sogar, es wären gar keine Tomaten darin, sondern stattdessen irgendwelche rotgefärbten, minderwertigen Ingredienzien und sie schimpften über die da oben, die sich immer neue Kapriolen ausdachten, um an der Versorgung der Bevölkerung zu sparen.

Brigida holte tief Luft. Es nützte nichts, sich lange damit zu befassen, wer oder was Schuld am leeren Senffass hatte. Brigida band sich eine steife, weiße Plastikschürze um und warf die glitschigen Bratwürste auf den mittlerweile angeheizten Grill. Die Würste zischten und entwickelten blauen Rauch. Brigida hustete und ihre Augen brannten. Jetzt hieß es, flink die Würste zu wenden, damit sie nicht aufplatzten. Brigida widmete sich hingebungsvoll dieser notwendigen Aufgabe.

Der Kiosk musste pünktlich geöffnet werden. Pünktlich, das bedeutete, kurz bevor die Berufstätigen ihre Arbeit in der Fabrik begannen. Sie waren es gewohnt, vorher kurz auf ein Heringsbrötchen oder eine Bratwurst bei ihr vorbeizuschauen. »Für die erste Pause«, so erklärten sie und lächelten dabei vielsagend. Brigida wusste, dass sie damit jene inoffiziellen Pausen meinten, die für so manchen von ihnen bereits vor Beginn der eigentlichen Arbeitszeit ein liebgewordenes Ritual geworden waren. Aber Brigida kommentierte es nicht, denn das ging sie alles nichts an, wie sie immer betonte.

Auf keinen Fall durfte der Eindruck entstehen, heute wäre der Kiosk geschlossen. Solch eine Nachricht, selbst wenn sie falsch war, verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den Kunden. Diese schienen sich alle untereinander zu kennen. Das war für Brigida hinsichtlich der Arbeiter, die in der nahegelegenen Fabrik irgendwelche merkwürdigen Bauwerke errichteten oder sonderbare Bauteile herstellten, nicht sehr verwunderlich, und auch die Büroangestellten hockten, soweit Brigida informiert war, alle miteinander in einem engen Bürocontainer am Rande des Fabrikhofes.

Woher allerdings die komische Alte mit den flatterigen, weißen Haaren und der abgegriffenen gelbgrünen Henkeltasche ihre Informationen bezog, blieb für Brigida ein Rätsel. Die Alte gehörte von Rechts wegen nicht hierher, aber sie musste vor mindestens zwanzig Jahren einmal in der hiesigen Fabrik gearbeitet haben und nun hielt sie ihr die Treue, noch lange nachdem nicht ein einziger ihrer einstigen Kollegen mehr hier war und keiner von den jetzigen Beschäftigten mit ihr etwas anzufangen wusste.

Jetzt öffnete Brigida das kleine Fensterchen, durch das sie nachher all die gewünschten Sachen verkaufen wollte. Sofort vermischte sich ein Schwall kalter, feuchter Luft von draußen mit der ungesunden, staubigen und grillkohlengeschwängerten Luft aus dem Inneren des Kiosks.

Vor dem Fenster bot sich den Augen kein gefälliges Ambiente. Zu sehen war nur das angrenzende Fabrikgelände, an dessen Rändern seit Ewigkeiten diverse metallene, rostige Gebilde aus dem Boden ragten, halb überwuchert von spärlichem, ungesund aussehendem Unkraut, dem der lange Winter den totalen Garaus gemacht hatte. Jeder, der genau hinschaute, konnte noch alte Farbreste an den Metallteilen ausmachen. Aber es sah keiner so genau hin. Und Brigida tat es erst recht nicht.

Die Stadt, in der Brigida lebte und in der auch ihr Kiosk stand, war alt und hässlich. Sollte sie früher einmal eine Schönheit gewesen sein, so lag das sehr lange zurück. Heutzutage machte sie den Eindruck eines alten ungepflegten Weibes in schmuddeligen Kleidern, die ungewaschen rochen. Aber nichtsdestotrotz, die Stadt war der Lebensraum für eine nicht eben kleine Gruppe von Menschen, und auch Brigida gehörte zu ihnen.

Wieder und wieder wendete Brigida die Würste, die ersten wurden schon braun. Wenn heute jemand nach Heringsbrötchen verlangte, musste sie ihren ganzen Charme aufwenden, um ihn auf die Bratwürste umzulenken, auf Bratwürste mit wenig Senf. Das würde ein hartes Stück Arbeit werden.

Brigida spielte in Gedanken schon mal das Verkaufsgespräch durch:

»Gib mir mal ein Heringsbrötchen, wie immer, du weißt schon«, sagte der Mann vor dem Verkaufsfensterchen mit der speckigen, graugrünen Schiebermütze, die Hände in den Taschen seines braungrauschwarzen Anoraks vergraben.

Er sagte du zu ihr, weil er sie jeden Tag sah, nicht, weil sie sich nahestanden. Brigida kannte hier niemanden genauer. Es gelang ihr kaum, ihre alltäglichen Kunden auseinanderzuhalten, weil sie einfach alle gleich aussahen. Alle trugen im Winter dieselben speckigen Mützen und Jacken, die sie im Sommer gegen grauweiße, schmuddelige Unterhemden tauschten.

Jedenfalls äußerte der Typ in Brigidas Gedanken: »Gib mir mal ein Heringsbrötchen ...« oder so etwas in der Art. Und dann würde Brigida ihr allerfreundlichstes Lächeln präsentieren und ihm die Zange mit der Bratwurst darin hinhalten: »Hier, heute sind die Bratwürste wirklich unglaublich lecker. Wie wäre es mit einer Bratwurst?« Und der Typ würde sich unter der Schiebermütze am Kopf kratzen und ungeduldig brummen: »Na gib schon her!« Dann würde er entdecken, dass auf der Bratwurst nur eine dürftige Senfspur prangte und er würde anklagend mit dem Finger darauf zeigen und Brigida müsste ...

»Hallo!«

Brigida schrak förmlich zusammen, als diese Stimme, eher ein zartes Stimmchen, nach ihr rief. Sie hatte nicht bemerkt, dass schon der erste Kunde an ihren Kiosk herangetreten war.

»Hallo ...«

Erstaunt schaute Brigida aus dem Fenster. So klang keiner von ihren alltäglichen Kunden. Die meisten waren Männer mit brummigen und rauen Stimmen, vom vielen Rauchen und manchmal auch vom Alkohol. Brigida musste sich weit hinauslehnen, um die Person sehen zu können, die soeben zu ihr gesprochen hatte.

Unter dem Kioskfensterchen entdeckte sie einen kleinen, etwa fünfjährigen Jungen, der kaum unter seiner dicken, grauen Wollmütze hervorblicken konnte. Der Rest vom Gesicht, zumindest das, was die überdimensionale Wollmütze freiließ, trug Schmutzspuren seiner Finger, mit denen er sich immerfort die laufende Nase abwischte.

»Warst du das? Hast du eben ,Hallo’ gesagt«, fragte Brigida das Kind.

Aber der Junge hatte sich abgewandt und hockte nun vor einer schmutzigen Pfütze, in die er winzige Steinchen hineinwarf. Das schlammbraune Wasser bildete kleine Kräuselwellen und hin und wieder spritzte es bis zum Gesicht des Jungen hoch.

»Wie heißt du denn«, fragte Brigida das fremde Kind, »und wo wohnst du?«

Der Junge gab keine Antwort.

»Er sieht nicht so aus, als ob ihm seine Mutter jeden Tag frische Sachen anzieht«, dachte Brigida. Nein, sie war an Kindern nicht sonderlich interessiert, doch damit entsprach sie nicht unbedingt den üblichen Bräuchen des östlichen Landes und seiner Menschen. Kinderlosigkeit mit Ende Zwanzig wurde mit einiger Besorgnis zur Kenntnis genommen. Aber Brigida hatte ihre Gründe für diese Einstellung.

Einige ihrer Kunden berichteten ihr dann und wann von ihren eigenen Kindern. Manchmal rutschte ihnen wie aus Versehen ein quadratisches, schwarzweißes Foto aus der Brieftasche. Brigida argwöhnte allerdings, dass sie dies absichtlich geschehen ließen. Stolz tippten sie dann mit dem Zeigefinger auf das Abbild eines pausbäckigen Kindergesichts und anschließend ergingen sie sich in Lobeshymnen über die angebliche Schönheit und Klugheit oder sportliche Wendigkeit ihres Nachwuchses.

Brigida irritierte das. Aber die stolzen Fotobesitzer bemerkten es in ihrer Verliebtheit in den eigenen Nachwuchs nicht. Irgendwann schoben sie das Foto wieder in ihre Brieftasche, bissen in ihre Wurst oder ihr Heringsbrötchen und gingen davon.

Aber jetzt saß dieser kleine Junge dort draußen vor der schmutzigen Pfütze, und er war nicht einfach ein schwarzweißes Abbild, sondern ganz echt.

»Wo sind deine Eltern? Wo ist deine Mutter?«, versuchte Brigida, das Kind aus der Reserve zu locken.

Der Junge rührte sich nicht.

»Was ist los? Wieso sprichst du nicht?« Brigida verspürte, wie sich ein Gefühl von Gereiztheit in ihr breit machte. Das Kind weckte Erinnerungen an ihre eigene Kindheit, und es waren nicht die besten.

»Bist du taub?«, fragte sie das Kind. Doch umgehend wurde ihr klar, dass das eine reichlich sinnlose Frage war. Wenn der Junge taub war, konnte er auch ihre Frage nicht hören. Und möglicherweise war er dann auch stumm. Einer der taub war, der war meistens auch stumm.

Andererseits, hatte er nicht vorhin ,Hallo’ gesagt? Dann konnte er doch auch antworten. Oder vielleicht war das gar nicht der Junge gewesen, sondern irgendeine erwachsene Person, die den Jungen hier abgesetzt hatte. Vielleicht wollte sich jemand einen Spaß mit ihr erlauben und testete sie, wie sie sich in einer solchen Situation verhielt. Sie reckte den Hals aus dem Kioskfenster, ob da nicht doch noch irgendwer in der Nähe herumlungerte, der sich jetzt ins Fäustchen lachte. Aber weit und breit war kein Mensch zu sehen. Brigida fuhr mit ihren notwendigen Morgentätigkeiten fort.

»Haaallooo!«

Der gab einfach nicht auf. Wieder ein Blick aus dem Fenster ..., der Junge saß immer noch vor der Pfütze. Er hatte ein dünnes Stöckchen in der Hand und schlug damit unablässig auf die Wasseroberfläche. Jetzt drehte er sich zu Brigida um, sah ihr direkt in die Augen, lächelte. Eigentlich war der Kleine ganz niedlich, wie er so auf der Erde hockte. Und er wirkte so verloren.

Die Würste auf dem Grill wechselten langsam die Farbe von hell- zu dunkelbraun und schließlich zu tiefschwarz. Der von ihnen ausgehende Geruch erinnerte an Holzkohle. Brigida hustete und mühte sich, mit beiden Händen den beißenden Qualm von sich weg zu wedeln. Die Würste waren nun so gut wie ungenießbar. Auch das noch! Na das dürfte nachher heiter werden. Da konnte sie sich richtig warm anziehen. Kein Hering, keine Bratwurst, nur ein kümmerliches Restchen Senf ... Und alles nur wegen diesem Kind da draußen, das sie von ihren dringenden Verpflichtungen abgelenkt hatte.

Brigida entschied sich nach kurzer Überlegung, die Polizei anzurufen. Sicher war das in so einem Fall die richtige Anlaufstelle. Wie gut, dass sie überhaupt in der komfortablen Lage war, an ihrem Arbeitsplatz über ein Telefon zu verfügen. Darum beneidete sie so mancher ihrer Kunden. Brigida legte die Würstchenzange weg, nahm den Telefonhörer zur Hand und wählte die Nummer des Polizeireviers. Es tutete und tutete.

»Merkwürdig«, dachte Brigida. »Eigentlich müsste bei der Polizei doch immer jemand erreichbar sein.«

Sie öffnete die Tür der Hütte, um nach dem Kind zu schauen. Doch nur das Stöckchen, mit dem es gespielt hatte, lag jetzt vergessen in der schlammigen Pfütze und die braune Wasseroberfläche kräuselte sich leicht, weil der Wind sacht darüber hin blies. Das Kind war verschwunden.

Nachdenklich wischte sich Brigida die Hände an der schmutzigen Plastikschürze ab und trat aus der Tür heraus. Sie schaute nach links, sie schaute nach rechts. Sie lief hinter den Kiosk und ging um ihn herum. Sie blickte in die Ferne. Nichts. Das Kind war weg. Seltsam. Hier konnte man fast kilometerweit schauen. Dieses Kind musste ja weggeflogen sein.

Brigida beschloss, zumindest im näheren Umkreis nach dem Kind zu schauen. Bis die ersten Kunden kamen, musste sie allerdings wieder zurück sein, um ihnen zu beichten, dass es außer trockenen Brötchen und verbrannten Würstchen mit einem Restchen Senf dazu heute nicht viel zu kaufen gab.

Unglücklicherweise begann es auch noch zu regnen. Brigida knöpfte sich die Jacke bis zum Hals obenhin zu und machte sich auf den Weg. Sie fror, aber es war einerlei. Weit konnte der Junge ja nicht sein.

»Also jetzt passen Sie doch auf, wo sie hinlaufen. Haben Sie denn keine Augen im Kopf?«

Brigida hatte die ältere Frau nicht kommen sehen. Es handelte sich um die Schmitz, der dieser kleine Gemischtwarenladen an der Hauptstraße gehörte, einer von den letzten privaten Läden in der Stadt, die nach wie vor der drohenden Verstaatlichung trotzten. Mit der Schmitz war nicht gut Kirschen essen. Sie hatte Haare auf den Zähnen, fühlte sich als etwas Besseres, nur weil die Leute ihr wegen des geringfügig besseren Angebots in ihrem Laden die Bude einrannten.

»Entschuldigen Sie bitte, ich war mit meinen Gedanken woanders«, mühte sich Brigida die aufgebrachte Frau zu besänftigen. »Ich suche nämlich einen kleinen Jungen. Haben Sie vielleicht ein kleines Kind gesehen? Etwa so groß.« Brigida zeigte mit der Hand neben sich und deutete eine Größe an, die ihr ungefähr bis zur Taille reichte.

Die versehentlich Angerempelte schüttelte den Kopf. »Ist Ihnen wohl ausgerissen, das Früchtchen?«, fragte sie und ihre Augen hinter den Brillengläsern funkelten.

»Nein, nein«, beeilte sich Brigida richtigzustellen. »Er ist vorhin neben meinem Kiosk aufgetaucht und als ich wieder hingeschaut hab, war er weg.«

»Aha, nicht ihrer, und was geht der Bengel dann Sie an?«, fauchte die Gemischtladen-Schmitz missmutig. »Der Junge wird sicher jetzt da sein, wo er hingehört.«

»Gut möglich, ich hab mir nur Sorgen gemacht. Es ist ja noch fast Nacht. So einem Kind kann da alles Mögliche zustoßen.«

Brigida hatte sich bemüht, ihre Erklärungen in einem äußerst freundlichen Tonfall vorzutragen, aber diese Freundlichkeit übte auf die Frau keine besondere Wirkung aus.

»Was interessieren mich die Kinder fremder Leute?«, entgegnete sie giftig. »Ich hab’s eilig, ich muss meinen Laden schließlich pünktlich öffnen. Höchstwahrscheinlich ist das Gör aus dem Zirkus abgehauen. Das ganze Zirkusgesindel hat doch Kinder ohne Ende, da fällt es überhaupt nicht auf, wenn mal eins fehlt.«

»Ja, dann entschuldigen Sie bitte nochmals«, stammelte Brigida.

Die Schmitz hasste Kinder. Das wusste jeder, und auch Brigida war das nicht entgangen, wenngleich sie sonst lieber einen Bogen um das Gemischtwarengeschäft der Frau machte.

Brigida fand es aber nachvollziehbar, dass der Junge aus dem Zirkus, der gerade in der Stadt gastierte, weggelaufen war. Sie entschloss sich, die wenigen Schritte zur Auenwiese am Fluss hinunter zu laufen. Dort wollte sie nachfragen, nur zu ihrer eigenen Beruhigung. Sicher hatte sich das Problem dann schnell erledigt. Das Kind war bestimmt längst dahin zurückgekehrt.

***

Bald hatte Brigida den Fluss erreicht. Auf der großen Wiese, an die der Fluss grenzte, war tatsächlich ein Zirkuszelt aufgebaut. Die große, helle Plane blähte sich im Wind und der feuchte Regen hinterließ glänzende Spuren an der Oberfläche des Zeltdaches. Brigida lief fast um das ganze Zelt herum, ehe sie den Eingang entdeckte. Er war nur durch ein Stück Zeltplane verhängt. Die schob sie beiseite und trat ein. Stickig war es hier drin, zwielichtig, ja fast dunkel. Brigida tastete sich vorwärts. Seitlich befanden sich die Zuschauerränge, die zu so früher Stunde alle noch unbesetzt waren.

Brigida entschied, einige Minuten zu warten. Ganz sicher würde gleich jemand kommen, den sie nach dem Kind fragen konnte. Sie setzte sich auf einen der Stühle und sah auf die Uhr. Allzulange durfte sie sich nicht hier aufhalten. Bald würden die ersten Kunden am Kiosk auftauchen.

Plötzlich schien helles Licht auf, das die Manege ausleuchtete. Brigida blinzelte. Was war das? Musik setzte ein, Zirkusmusik. Begann etwa jetzt schon die Vorstellung, so früh am Morgen? Die leeren Zuschauerränge lagen im Dunkeln. Brigida schien die einzige Zuschauerin zu sein. Sie setzte sich aufrecht hin.

Eine Peitsche knallte. Erstaunt riss Brigida die Augen auf. Pferde, schneeweiße Pferde galoppierten heran und auf jedem Pferd – jetzt erkannte es Brigida – saß ein weißes Kaninchen. Die Kaninchen krallten sich geschickt an den Pferderücken fest. Die Pferde wiederum bemerkten die Kaninchen, sie wieherten laut. Brigida befürchtete, die Pferde könnten scheuen und die Kaninchen abwerfen. Ängstlich schloss sie für einen Moment die Augen. Doch als sie wieder hinschaute, war die Manege leer.

Da trotteten Elefanten herein. Bedächtig und gemütlich setzten sie, ihrer Körperfülle zum Trotz, ein Bein vor das andere und wippten dabei im Takt einer tief und dennoch anmutig klingenden Melodie. Auf den ersten Elefanten ritten Affen, die sich an den großen, grauen Ohren festhielten. Brigida war fasziniert. Sie ließ ihre Augen an den Elefantenkörpern hinabgleiten, voller Bewunderung dafür, wie diese behäbigen Tiere im Takt, einer hinter dem anderen her, marschierten.

Aber was war das. Zwischen den riesigen Elefantenfüßen hoppelten Dutzende von weißen Kaninchen umher. Brigida sorgte sich, dass ihnen etwas zustoßen könnte. Immerhin stellten die Elefanten aufgrund ihrer Größe und ihres Gewichts eine ernsthafte Bedrohung für die pelzigen Tierchen dar. Doch dann verließen die Elefanten die Manege und mit ihnen verschwanden auch auf einen Schlag die Kaninchen, so als wären sie nur reine Spukgestalten gewesen.

Sogleich kugelte wie ein Gummiball ein buntes Wesen in die Manege. Rad schlagend und Purzelbäume vollführend wirbelte dieses Etwas herum und kam, über seine großen Schuhe stolpernd, in der Mitte der Manege zum Sitzen.

Brigida lehnte sich zurück und verzog erwartungsvoll die Mundwinkel nach oben. Gleich würde es sehr lustig werden. Und wirklich, der Clown enttäuschte sie nicht. Immer wieder aufs Neue mühte er sich aufzustehen und kam doch keinen Zentimeter vom Boden hoch. Einmal stolperte er über seine großen, gelben Schuhe, dann wieder verwickelte er seine Beine in die herabhängenden Hosenträger seiner unförmigen Hose und zu guter Letzt taumelte er völlig grundlos zurück zu Boden.

Brigida lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen. Es war zu komisch. Jetzt schaute sie der Clown direkt an. Sie erkannte seine große, runde, rote Nase, sein weiß geschminktes Gesicht und seinen riesigen, purpurfarbenen Mund. Und erst die Augen ... Die Augen lagen in weiß angemalten und tiefschwarz umrandeten Höhlen und waren unverwandt auf Brigida gerichtet.

Nun hob der Clown seine rechte Hand und machte eine Gebärde in ihre Richtung. Wieder und wieder strengte er sich an aufzustehen, um am Ende wiederum die besagte Geste in Brigidas Richtung zu machen. Und da sah Brigida, dass sein breiter, roter Mund wie zu einem Weinen verzogen war und dass aus einem seiner runden Augen eine Träne rann. Brigida lachte nicht mehr. Sie wollte schlucken, aber es ging nicht. Ein dicker Kloß saß ihr im Halse.

Dann verschwand auch der Clown. Doch noch bevor sich Brigida darüber wundern konnte, ging das Spektakel weiter. An ihrer rechten Wange verspürte sie jetzt einen sanften Lufthauch. Sie wandte den Kopf in die entsprechende Richtung und entdeckte ein Seil, das neben ihr hin und her baumelte.

Ein kleiner Mensch kletterte behände wie ein Äffchen an dem Seil hinauf. Immer wieder zog er sich zunächst mit beiden Händen ein Stück höher und rutschte dann mit den Beinen nach. Dabei musste er sich anstrengen, keine Sekunde den Kontakt mit dem Seil zu verlieren.

Brigida legte den Kopf in den Nacken, um besser sehen zu können, wer da kletterte. Doch nichts als nur ein kleiner Punkt war von hier aus noch wahrnehmbar. Es schien, als ob der Kletterer bereits kurz unter dem Zeltdach angekommen war. Dort machte die grazile Gestalt kurz halt, aber dann verlor sie das Gleichgewicht.

Bang schloss Brigida wieder die Augen. Trommeln dröhnten und dröhnten, gefolgt von dem fast befreienden Tusch, der bei Zirkusvorstellungen – das wusste Brigida – stets das alles auflösende Ende gefährlicher akrobatischer Kunststücke anzeigte. Erleichtert öffnete Brigida die Augen, aber das Seil war verschwunden und mit ihm der kleine Akrobat, der vorhin daran nach oben geklettert war.

Brigida blinzelte nach oben zum Zeltdach. Dort klaffte eine schmale Lücke im Stoff. Man konnte jedenfalls das graue Tageslicht hindurchleuchten sehen. Ansonsten war nicht die Spur eines Seiles sichtbar. Brigida hatte die flüchtige Idee, dass sie es hier mit dem gesuchten Jungen zu tun haben könnte, der soeben als kleiner Artist bis in den Himmel hinaufgeklettert war.

Ein lautes »He!« ließ sie zusammenschrecken. Genau vor Brigida hatte sich eine weibliche Person in einer blaubunten Kittelschürze aufgebaut, die Hände breit in die ausladenden Hüften gestemmt, den Oberkörper weit zurückgebogen, so als würde sie auf Brigida geringschätzig herabschauen.

Es handelte sich wohl um eine Putzfrau. Ihr Gesicht sah abgehärmt aus, die schütteren, aschgrauen Haare waren unter einem schmutzigen Kopftuch versteckt. Und sie besaß eine Figur, wie man sie oft an alten Frauen sieht, nicht auffallend dickleibig, aber bar jeder Form.

»He, was machen Sie denn hier?« Das kittelbeschürzte Wesen schien sich seines schmuddeligen Äußeren nicht im Geringsten gewahr zu sein. Aus winzigen Vogelaugen sah die Frau Brigida misstrauisch an.

»Ich, ich, weiß nicht ...«, stotterte Brigida, verblüfft über die mit so unverhohlenem Groll hervorgestoßene Frage.

»Aber ich weiß es!«, blaffte die Alte grimmig. »Die paar Moneten für den Eintritt sind der Madame zu viel. Da kann man sich ja einfach mal so hier reinschleichen, sich alles angucken und dann wieder abhauen, bevor‘s ans Bezahlen geht. Interessiert die gnädige Frau ja nicht, wovon das blöde Zirkusgesindel und die Viecher so leben. Natürlich nicht!«

Die Alte hielt nun den Kopf mit dem zerrupften Haarschopf unter dem Kopftuch leicht geduckt und vorgeschoben. Diese Haltung verlieh ihr eine Mischung aus einerseits bedrohlicher und andererseits leicht grotesker Wirkung.

»Nein, so ist es nicht«, beteuerte Brigida und sie legte dabei ihre ganze Überzeugungskraft in ihre Stimme, um sie betont nett klingen zu lassen.

»Sondern?«

»Ich suche ein Kind«, bemühte sich Brigida, den Zweck ihres Hierseins zu erklären.

»Alles klar! Die gnädige Dame sucht ein Kind. Ausgerechnet hier, in einem Zirkus!« Dem spöttischen Tonfall der Alten war zu entnehmen, dass die Eindringlichkeit in Brigidas Stimme völlig vergebliche Liebesmüh gewesen war. Und wie zur Bekräftigung fuchtelte die abgehärmt aussehende Alte nun auch noch mit beiden Armen in der Luft herum und stieß einige heisere Töne hervor, die man mit gutem Gewissen als höhnisches Lachen bezeichnen konnte.

»Nein, wirklich ...« Brigida gab sich Mühe, sehr ernst, dabei aber außerdem noch freundlich zu sprechen. »Ich suche ein Kind. Es ist fortgelaufen.«

»Und warum passen Sie auf ihr Balg dann nicht besser auf? Hätten Sie aufgepasst, wäre es nicht weg.«

»Nein, nein, es ist überhaupt nicht mein Kind«, versuchte Brigida, das Missverständnis aufzuklären.

»Wenn‘s nicht ihr‘s ist, dann geht es Sie auch nichts an. Was wollen Sie mit einem fremden Kind? Oder sind Sie vielleicht so eine, die kleine Kinder klaut? Stecken Sie etwa mit denen unter einer Decke?« Die zusammengekniffenen Vogelaugen der Alten wurden noch eine Spur winziger und blitzten argwöhnisch.

»Wen meinen Sie damit?«, fragte Brigida verdutzt. »Mit wem soll ich denn unter einer Decke stecken?«

»Ich hatte auch mal ein Kind ...«, begann die Alte, aber sie äußerte es auf eine Weise, die Brigida zweifeln ließ, ob sie die Wahrheit sprach.

»Ach so?«, entgegnete Brigida daher möglichst unverbindlich. »Und was ist damit passiert?«

»Was soll damit passiert sein? Geklaut haben sie es mir, diese Bastarde«, grollte die Frau wütend. »Als ich nach Hause kam vom Einkaufen, war’s weg. Die haben behauptet, ich hätte das Kind vernachlässigt, aber ich musste doch was zu beißen holen. Das Kind wär mir ja sonst verhungert. Ich hab’s jedenfalls nie wiedergesehen, mein Kind.«

»Das tut mir leid«, sagte Brigida leise, aber ein inneres Gefühl riet ihr, nicht weiter nachzufragen.

»Davon kann ich mir auch nichts kaufen, dass Ihnen das leid tut«, zischte die Alte ungehalten. »Ich hab jetzt jedenfalls zu arbeiten. Hier gibt‘s nämlich nichts umsonst. Umsonst ist höchstens der Tod. Nur auf den muss unsereins noch ein Weilchen warten.« Wütend starrte sie auf Brigidas braungraue Jacke, die neben ihrer eigenen verwaschenen Kittelschürze nahezu elegant aussah.

Brigida beschloss, die Feindseligkeit der Alten zu überhören. »Also hören Sie, ich arbeite dort hinten auf dem Fabrikgelände in der Pausenversorgung«, erklärte sie. Und heute Morgen, bevor ich den Kiosk geöffnet habe, da stand auf einmal so ein kleiner Junge mit einer dicken, grauen Wollmütze vor dem Fenster, und der sagte ,Hallo’ und dann ...«

»Und dann, und dann ...«, äffte die Alte den Tonfall von Brigida nach. »Solche Bälger mit Wollmützen gibt’s an jeder Straßenecke. Woher soll ich wissen, wo das Miststück hingelaufen ist. Hier ist es jedenfalls nicht.«

»Kann ich nicht wenigstens mal nachschauen? Vielleicht hier im Zelt oder draußen bei den Tieren. Kinder verstecken sich gern mal und sie lieben auch Tiere. Es bestünde ja zumindest die Möglichkeit.«

»Na, das könnte Ihnen so passen. Hier überall rumschnüffeln. Vielleicht noch was klauen!« Die Alte machte ihrer äußeren Erscheinung alle Ehre, sie keifte wie ein altes Waschweib.

»Ich will nichts klauen, bestimmt nicht!« Brigida hob beschwichtigend beide Hände und drehte dabei die Handflächen nach außen. So als ob sie der Alten augenscheinlich beweisen wollte, dass ihre Hände bis jetzt nichts hatten mitgehen lassen.

Doch die Alte winkte verächtlich mit der Hand ab. »Lassen Sie sich bloß nicht vom Direktor erwischen«, brummte sie unwirsch. »Der macht Ihnen Beine, das kann ich Ihnen flüstern.« Dann ging sie schlurfend durch die Stuhlreihen davon. Brigida sah ihren gebeugten Rücken und die im Nacken leicht gekräuselten, schütteren Haare von undefinierbar grauer Farbe.

»Ich geh gleich«, rief Brigida ihr nach. »Muss ja meinen Kiosk gleich aufmachen.«

Aber die Alte tat, als habe sie nichts gehört.

Brigida hatte auf einmal das Gefühl, dass nichts sie wieder zu dem grauen Ort zog, wo sie eigentlich um diese Zeit hätte sein sollen. Daran konnte auch das ablehnende und befremdliche Verhalten der mutmaßlichen Putzfrau nichts ändern. Brigida atmete tief ein und es war ihr, als besäße die Luft in diesem Zelt ein besonderes Fluidum, das sich wie ein Balsam um sie legte. Nur einen kleinen Moment lang wollte sie die Atmosphäre noch auskosten.

Das Kind, nach dem sie gesucht hatte, war inzwischen sicher schon da, wo liebevolle Menschen sich um es gesorgt hatten, ob hier im Zirkus oder anderswo. Ganz bestimmt nahm es seine fürsorgliche Mutter gerade tröstend in den Arm und tat ihm irgendetwas Gutes, nur aus Freude darüber, dass es wieder daheim war.

Das Kind hatte es gut, befand Brigida. Zweifellos besser als sie jemals haben würde. Ja, gewiss, auch Brigida hatte eine Mutter. Aber ihre Erinnerung an die Frau, die sie einst geboren hatte, war mit der Zeit verblasst. Die Mutter war – wie es hieß – überfordert gewesen mit dem Kleinkind. Sie hatte nicht einmal einen richtigen Mann dazu gehabt. Brigida wusste nichts über ihren Vater. Niemand hatte je über ihn gesprochen.

Jedenfalls hatte die Mutter Brigida, als sie noch ganz klein gewesen war, in einem staatlichen Kinderheim abgegeben. Und Brigida war dort permanent eingeredet worden, wie lieb ihre Mutter sie doch gehabt haben musste, weil sie immerhin so viel Verantwortungsgefühl besessen hatte, sie in ein Heim zu geben, da, wo sich rechtschaffene Menschen um sie kümmerten. Man ließ stets offen, was die Mutter mit Brigida außerdem noch alles hätte anstellen können, wenn sie eben nicht so verantwortungsbewusst gewesen wäre. Obwohl Brigida sich nie hatte ausmalen können, was denn hätte schlimmer sein sollen, als sein Leben in so einem Heim fristen zu müssen, das den Namen Heim von Rechts wegen gar nicht verdiente, wo man inmitten von schreienden Kindern auszuharren hatte, die einem das Spielzeug wegrissen. Wo man umgeben war von sogenannten Tanten, die niemals ein freundliches Wort für einen übrighatten.

Brigida hatte sich schließlich angewöhnt, ihnen nie in die Augen zu sehen, diesen Tanten, wie sie von den Kindern genannt werden wollten. Ganz zu Anfang war sie so mutig gewesen, ihnen ins Gesicht zu schauen. Doch alles, woran sie sich erinnerte, waren steile, dunkle Zornesfalten, die jede der Stirnen in zwei Hälften zu teilen schienen und die sich ihr wie spitze Pfeile in die Augen gebohrt hatten. Die Tanten hatten Brigida stets das Gefühl vermittelt, dass gar nichts richtig und gut war, was sie tat. Kein Tag war vergangen, an dem nicht irgendeine Strafe sie getroffen hatte, weil sie wieder einmal ungehorsam und böse gewesen war. Ein böses und dummes Kind war sie gewesen, das jede Strafe mehr als verdient hatte.

Am liebsten hatte sie zerlesene Bücher mit ausgefransten Seiten vom Boden der Spielzeugkisten herausgeklaubt und sich damit in den äußersten Winkel des Spielzimmers verzogen. Nein, lesen hatte sie noch nicht gekonnt, aber die verblichenen Bilder waren ihr eine willkommene Möglichkeit gewesen, sich an ferne Orte zu träumen. Dahin, wo die Zauberpferde durch die Wolken segelten und Märchenfiguren und Elfenwesen auf grünen und sonnenbeschienenen Wiesen einen Reigen um eine verwunschene Eiche tanzten.

Sie war ständig auf der Suche gewesen nach kurzen Buntstiftstummeln, hatte sie in den unwahrscheinlichsten Ecken ausfindig gemacht, um damit den Bildern auf den unansehnlichen Buchseiten so viel Farbigkeit zu verleihen, wie die beinahe aufgebrauchten Buntstiftreste es ihr erlaubt hatten. Nicht selten war sie erschrocken hochgefahren, wenn sich unversehens ein Schatten über die so sorgsam ausgemalten Bilder gelegt hatte. Solche Schatten waren immer die drohenden Vorboten der folgenden Bestrafungsaktion gewesen.

Mit zornigen Worten war ihr dann das bunte Bild entrissen worden und Brigida hatte so manches Mal stumm mit ansehen müssen, wie das Zauberpferd oder die kleine Elfe mittendurchgerissen wurde. Sie hatte dann umgehend dem herrisch ausgestreckten Arm der Tante Folge leisten müssen und sich dahin verkrümelt, wo man sie hinbeorderte. Nein, es war nicht gern gesehen worden, wenn man sich im Heim den eigenen Vorlieben widmete. Man musste stattdessen tun, was alle machten.

Brigida hatte auch eine außerhalb des Kinderheimes liegende Schule besucht. Natürlich, die Schulstunden waren so etwas wie eine Pause vom tristen Kinderheimalltag gewesen. Aber dennoch war ihr die Schule nie mehr als eine lästige Pflicht gewesen, denn auch da hatte nie das gezählt, was sie gern mochte. So hatte sie sich durch die Schuljahre geträumt und diese waren, fast ohne eine Spur zu hinterlassen, an ihr vorbeigezogen. Nur der Geruch von damals, der saß ihr bis zum heutigen Tag noch in der Nase: eine Mischung aus Kinderschweiß, Schmutz, Desinfektionsmittel und Papierstaub.

Nach dem Abschluss der Schule hatte Brigida etwas gelernt, wie man so schön sagte. Sie war in die Lehre gegangen, um irgendeinen Beruf zu ergreifen, der ihr nichts bedeutet hatte und der für niemanden eine Bedeutung zu haben schien.

»Mit ihrer Ausbildung und vor allem mit ihren Zeugnissen werden Sie nicht weit kommen«, war ihr überall gesagt worden. Dabei hatte jeder die Worte: ,mit ihrer Ausbildung’ in einem Tonfall hervorgebracht, der höchste Verächtlichkeit verriet. Und dann war ihr geraten worden, sich noch weiterzubilden, am besten etwas ganz Neues anzufangen, das in den Augen der meisten Menschen ein richtiger Beruf war.

Aber Brigida hatte genug von der ganzen Bildung gehabt. Eines Tages war sie an einem schäbigen Bretterhäuschen vorübergegangen und dort auf einen handgeschrieben Zettel aufmerksam geworden, der in einer Klarsichthülle neben das schmutzige Kioskfensterchen gepappt worden war: »Verkäuferin gesucht«. Die Formalitäten waren rasch erledigt gewesen und Brigida hatte eine Beschäftigung gehabt, für die sie ausreichend qualifiziert war.

»Hallo, Sie da! Lungern Sie hier etwa immer noch herum? Machen Sie, dass Sie Land gewinnen und lassen Sie sich nicht wieder hier blicken!«

Brigida schrak hoch. Oh, die Alte war schon wieder zurückgekommen und regte sich auf, weil sie noch nicht gegangen war. »Ja, ich geh doch schon«, murmelte sie. Sie erhob sich und schickte sich an, durch die engen Stuhlreihen zum Ausgang zu trotten.

Dort angekommen roch Brigida bereits die kalte, nasse Luft, die von draußen ins Innere des Zeltes wehte. Sie stieß den fleckigen Stoff der Stoffluke beiseite und wollte die Öffnung passieren, doch der Weg nach draußen war versperrt. Brigida erschrak. Dicht vor ihr, nur wenige Zentimeter entfernt stand ein Mann. Und was für einer ..., ein Clown.

»W-w-wer sind Sie und was machen Sie hier?«, stammelte Brigida.

Natürlich, sie erkannte sofort, dass es sich offensichtlich um den Clown handelte, den sie vorhin in der Manege gesehen hatte. Und der Clown trug auf dem Arm ein Tier, ein weißes Kaninchen. Der Clown machte, so wie er da stand, den Eindruck, als habe er ausschließlich auf Brigida gewartet, als stünde er alleine ihretwegen vor dem Zeltausgang, mit diesem weißen Kaninchen auf dem Arm.

Leichte Bangigkeit überkam Brigida. Der Clown hatte sie schon in der Probevorstellung fasziniert, hatte sie emotional sehr tief berührt. Und nun stand er hier und schwieg, sah sie nur an. Um seinen geschminkten Mund herum spielte ein feines Lächeln und auch seine dunklen Augen schimmerten sanft.

Spontan fasste Brigida den Entschluss, einfach an diesem Clown vorbeizugehen, davonzulaufen, sich nicht mehr umzuschauen. Aber der Mann legte ihr sacht die Hand auf den Arm, es fühlte sich beinahe zärtlich an. Brigida blieb stehen und sah geradewegs in das Gesicht des jungen Mannes mit dem großen, kirschroten Mund und den ausdrucksvoll geschminkten Augen. Und dann schaute ihr der Clown ganz tief in die Augen, so als gäbe es zwischen ihnen mehr als nur diese flüchtige Begegnung, als würden sie sich schon sehr lange kennen.

Brigida lächelte ebenfalls. Es war auf einmal ein ganz neues, ein warmes Gefühl in ihr, das ihr guttat und das in ihr eine ferne Erinnerung wachrief, die nichts mit der erbärmlich hässlichen Stadt, dem alten Fabrikgelände und dem windschiefen Verkaufshüttchen zu tun hatte: Eine sachte Ahnung von Glück, ein verzauberter Moment, und was es sonst noch für große Worte gibt, die die Dichter ihren Helden in den Mund legen, wenn sie das eine große Gefühl der Liebe ereilt.

Sanftheit und Zärtlichkeit legte sich wie ein hauchdünner Schleier über diese beiden jungen Menschen am Ausgang des Zirkuszeltes, schirmte sie ab gegen alles Banale und Belanglose dort draußen in der Welt. Doch, ach, so fein, so fragil war der Schleier, der sie beide umgab. Ein einziger unbedachter Wimpernschlag, und er würde entzweireißen.

Und wirklich, es war schnell vorbei. Der kostbare, zauberhafte Moment verstrich. Und plötzlich wussten sie beide, der Clown und das Mädchen, nicht mehr, was sie machen sollten. Sie erkannten, wie sie beide in ihrer bloßen Empfindsamkeit voreinander standen und es ergriff sie die Verlegenheit.

Keiner sprach ein Wort, so als fürchteten sie sich beide vor der Trivialität des Alltäglichen. Dann drehte sich der Clown einfach um und ging davon, mit dem weißen Kaninchen auf dem Arm. Und Brigida blieb verwirrt zurück.

Aber es war geschehen, eine Tür hatte sich einen winzigen Spalt breit geöffnet, nur eben so weit, dass ein einziger Sonnenstrahl hindurchpasste. Doch ein Anfang war gemacht.

***

»Verdammt! Verdammt! So ein Mist!«

Die gefluchten Worte hallten laut über den Gehsteig, so dass Passanten, die im gerade einsetzenden Regen eilig vorüberlaufen wollten, erstaunt innehielten, wenn auch nur solange, bis sie bemerkten, dass sich hier vermutlich niemand in ernster Gefahr befand. Beiläufig schauten sie auf den untersetzten, ältlichen Mann im abgetragenen, weißen Kittel, der schimpfend und kopfschüttelnd neben seiner nur angelehnten Ladentür vor einem Stapel Bierkästen stand.

Bei dem Weißbekittelten handelte es sich um den Inhaber eines kleinen Geschäftes, dessen Türe weit offenstand. Dieses Geschäft wiederum war eins der eher unscheinbaren letzten privaten Geschäfte entlang der Hauptstraße, die die gesamte Ortschaft durchzog.

Diese kleinen privaten Geschäfte an der Hauptstraße glichen einander aufs Haar. Es waren alles Läden mit blinden Schaufensterscheiben, hinter denen es nicht viel zu besichtigen gab, außer einem Sammelsurium offensichtlich unnützer Gegenstände, die irgendwie alle nicht richtig zueinander passten. Um die wahren Schätze im Inneren der Geschäfte ausfindig zu machen, bedurfte es für die Kaufwilligen eines großen Fingerspitzengefühls, und es kam zuallererst darauf an, wer man war. Als durchschnittlicher Kunde hatte man kaum Anrecht auf mehr als das in den Schaufenstern Ausgestellte.

Der Ladeninhaber solch eines kleinen Geschäfts war soeben im Begriff gewesen, einige Paletten mit Bierkästen von der Straße ins Haus zu bugsieren. Da hatte er, versteckt hinter den Kästen, eine kleine zusammengekauerte Gestalt entdeckt: ein kleines Kind. Dass es sich um einen Jungen handelte, hatte er erst auf den zweiten Blick erkannt, vielleicht an der dicken, graugrünen Wollmütze? Die Mütze war das erste, was von der zwergenhaften Gestalt zu sehen gewesen war. Und unter dem Rand der unförmigen Kopfbedeckung schauten jetzt ein paar furchtsame Augen hervor, als der Junge den Kopf nach oben in seine Richtung hob.

»Verdammt, was hast du hier zu suchen, du Früchtchen!« Wütend schleuderte der Weißkittelmann die Worte wie Pfeile auf die winzige Gestalt herab, die sich daraufhin noch mehr zusammenkauerte.

»Wie eine Maus in der Falle«, dachte der Ladeninhaber flüchtig. Nur dass man bei einer Maus sogleich wusste, was zu tun war. Ein kleines bisschen Rattengift, schon löste sich das Problem wie von selbst. Was aber sollte man mit einer so erbarmungswürdigen Gestalt anfangen? Es war ein Mensch. Rattengift kam jedenfalls nicht infrage. Eigentlich.

»Raus hier, aber ein bisschen schnell!«, brüllte der Mann noch eine Spur ärgerlicher. Dabei wusste er doch nur zu gut, dass es dem Kleinen gar nicht möglich war, aus eigener Kraft sein Gefängnis inmitten der zum Karree in die Höhe gestapelten Bierkästen zu verlassen. Er war ja praktisch komplett eingemauert.

»Warte hier«, bedeutete der Mann dem Kind. »Ich hole Hilfe. Wir müssen die Kästen wegräumen und dann hole ich dich raus und bringe dich nach Hause. Du hast doch ein Zuhause, oder? Wo wohnst du denn?«

Aber es war vergeblich, der Junge reagierte nicht und der Ladeninhaber sah ein, dass er so nicht weiterkam. Er brauchte Unterstützung. So betrat er also den Nachbarladen, um die Ladenbesitzerin Elfriede Schmitz oder deren Ehemann, den alle wegen seines dicken Bauches nur Kugelschmitz nannten, um Hilfe zu bitten.

Sein Laden und der der Nachbarin grenzten so eng aneinander, dass sie sich eine einzige Türschwelle teilten. Kunden, die zum ersten Mal kamen, konnten vermuten, es gäbe in beiden Geschäften haargenau die gleichen Waren zu kaufen, nur eben anders auf die Regale verteilt. Aber diesen Eindruck vermittelten ohnehin alle Läden der Stadt oder sogar des ganzen östlichen Landes. Zumindest roch es aber in jedem Laden ein klein wenig anders, ohne dass man eindeutig sagen konnte, woran das lag.

»Hört mal«, rief der Besitzer des Nachbarladens gleich von der Tür her. »Bei mir hat sich so ein kleines Würmchen hinter den Bierkästen verschanzt. Keine Ahnung, wie der Kleine da reingeraten ist. Es standen ja die ganzen Kästen darum herum. Bloß ehe ich die alle alleine weggeräumt habe, ist es Mittag. Ich brauch Hilfe.«

Kugelschmitz in seiner dunkelblauen Arbeitslatzhose machte sofort Anstalten, dem Bittenden zu folgen. In dieser wahrlich vom Schicksal nicht verwöhnten östlichen Ladengemeinschaft bedurfte es nicht vieler Worte. Man kannte sich seit Jahren, und genau deshalb bildete man eine eingeschworene Gemeinschaft und stand sich bei, wo immer es nottat.

Jetzt aber zog die abgehärmt aussehende Ladenbesitzerin Elfriede Schmitz missmutig die Augenbrauen hoch. »Ein Kind zwischen den Bierkisten? Und was kümmert euch das? Befasst euch nicht immer mit Angelegenheiten, die euch nichts angehen!« Durch die Gläser ihrer dunkelumrandeten Brille schoss sie grelle Augenblitze auf die beiden Männer, bedachte damit jedoch hauptsächlich ihren eigenen Ehemann.

Der winkte ab. Er kannte die Einstellung seiner Frau, was Kinder anging. Sie verabscheute sie geradezu, ohne dass er jemals einen richtigen Grund dafür hatte ausmachen können. Er hatte es sich abgewöhnt, auf ihre Nörgeleien einzugehen.

Ein Schritt vor die Tür, und die beiden Männer standen am Ort des Geschehens, unmittelbar vor den gestapelten Bierkisten.

»Hier«, deutete der Ladeninhaber, der den Jungen entdeckt hatte, auf den Bierkistenturm. »Hier sitzt er drin.«

Schweigend begannen die beiden Männer im strömenden Regen, die Kisten beiseite zu stapeln. Die Bierflaschen machten scheppernde Geräusche, die sich mit denen der nun stetig stärker herniederprasselnden Regentropfen vermischten. Noch hatte keiner der beiden Männer sich die Mühe gemacht nachzuschauen, ob denn der Junge noch inmitten der gestapelten Bierkästen hockte. Der Stapel wurde kleiner und kleiner, und bald konnte man in das Bierkastenverlies hinunterschauen, ohne sich auf die Zehenspitzen stellen zu müssen.

Der Mann, der den Jungen entdeckt hatte, äugte als Erster in die enge Öffnung, die die gestapelten Kisten freiließ. »Das gibt’s doch gar nicht!« Entsetzen und Verblüffung standen dem Mann ins Gesicht geschrieben. »Hier, hier, ...« Der Zeigefinger seiner rechten Hand stieß im Takt seiner Worte in die Richtung, wo der Junge eigentlich hätte sitzen müssen. »Hier, hier war er drin. Ich hab‘s doch mit eigenen Augen gesehen.«

Der Nachbar Kugelschmitz begriff sofort, dass etwas Bemerkenswertes, wenn nicht gar Furchterregendes geschehen sein musste. Misstrauisch, aber auch neugierig beugte er sich gemeinsam mit seinem Ladennachbarn über den viereckigen Hohlraum inmitten der Bierkisten. Nur, es war da nichts zu sehen als der glatte, schmutzige Boden, der außerdem auch ein wenig feucht war, denn ein muffiger Geruch wie nach Keller strömte von dort unten herauf. Der Junge aber war weg, als hätte er nie dort gesessen.

»Der muss rausgeflogen sein«, stammelte Kugelschmitz‘ Ladennachbar, der den Jungen zuerst entdeckt hatte, und er machte dabei unbeholfene Flatterbewegungen mit beiden Armen, so als wollte er andeuten, dass der Junge wie ein Vogel davongeflogen war.

Kugelschmitz in seiner blauen Arbeitsmontur schüttelte verständnislos den Kopf. »Das ist ja ein Ding«, murmelte er. »Der Kleine ist bestimmt von irgendwo ausgerissen und wird schon gesucht. Möglicherweise gibt es auch bereits eine Vermisstenmeldung. Es kommen ja immer mal wieder Kinder abhanden. Wir sollten jedenfalls bei der Polizei anrufen. Ich kann das sofort erledigen, warte du hier.«

Damit trat er wieder zurück in seinen Laden. Schon von der Tür her rief er seiner Frau, der eigentlichen Ladenbesitzerin Elfriede Schmitz, zu, sie solle schleunigst die Polizei anrufen. Es wäre da ein Kind abhandengekommen.

»Was?« Die Frau, die nun hinter der Ladentheke stand, starrte ihren aufgeregten Mann entgeistert an. »Ich denke, das Kind saß zwischen den Bierkästen?«

»Ja, dort saß es«, erwiderte Kugelschmitz. »Aber jetzt ist es weg. Wähle schnell die Eins-Eins-Null. Das ist doch wohl die Nummer der Polizei. Also los, mach hin!«

»Was geht uns dieses Kind an?«, keifte die Frau böse. »Nach dem sucht doch sowieso schon die halbe Stadt.«

»Und woher weißt du das?«, fragte Kugelschmitz verblüfft.

»Woher ich das weiß?« Die Ladeninhaberin Elfriede Schmitz stemmte sich mit beiden Armen auf den Verkaufstresen. »Vorhin bin ich mit der Verkäuferin vom Industriegelände zusammengestoßen. Die faselte auch irgendwas von einem Kind, das sie suchen wollte. Das Gör ist garantiert aus dem Zirkus abgehauen. Also lass es gut sein. Ich bitte dich darum.«

»Ich bitte dich darum, ich bitte dich darum«, äffte Kugelschmitz seine Frau spöttisch nach. »Du brauchst mich um gar nichts zu bitten. Schließlich ist man als anständiger Bürger verpflichtet, sein Möglichstes zu tun, wenn ein Mensch in Not gerät. Und so ein Kind, das sich wahrscheinlich verlaufen hat, ist ein Notfall.«

»Na und?« Die Frau schaute ihren Mann in einer Mischung aus Resignation und Grimmigkeit an. »Fragt jemand nach uns, wenn die uns von da oben den Hahn immer mehr zudrehen, wenn die uns das Leben schwerer und schwerer machen, bis wir eines Tages ganz aufgeben? Das ist doch genau das, was die bezwecken.«

»Ja, aber das ist doch etwas völlig anderes.« Kugelschmitz verdrehte genervt die Augen nach oben. »Hier handelt es sich um ein kleines Kind. Das hat doch mit der großen Politik gar nichts zu tun.«

»Also ich ruf jedenfalls nicht bei der Polizei an«, fauchte die Frau wütend. »Gerade bei denen nicht. Die will ich nicht hier im Hause haben.«

»Was ist bloß aus dir geworden?« Kugelschmitz klopfte mit den Knöcheln der rechten Faust hart auf den hölzernen Verkaufstisch.

Elfriede Schmitz ging nicht weiter auf den gereizten Tonfall ihres Mannes ein. In letzter Zeit lehnte er sich mehr und mehr gegen sie auf. Und höchst empfindlich gebärdete er sich, wenn es um Kinder ging, ein ewiges Streitthema in ihrer langjährigen Partnerschaft, ein heißes Eisen. Jahrelang hatten sie es tunlichst vermieden, über Kinder zu reden. Doch nun gab es drohende Anzeichen, dass er mit seiner eigenen Meinung zu diesem Thema nicht mehr länger hinter dem Berg halten wollte. Aber noch hatte die Frau einen Trumpf im Ärmel.

»Weiß doch jeder, dass der Typ von nebenan nicht alle Tassen im Schrank hat«, murmelte sie wie zu sich selbst. »Wer sich literweise Bier hinter die Binde kippt, vom Fusel mal ganz zu schweigen, der braucht sich nicht zu wundern, wenn er irgendwann weiße Mäuse sieht.«

»Kinder«, unterbrach Schmitz, der sehr wohl verstanden hatte, was sein Eheweib da missmutig vor sich hin brabbelte. »Ein Kind hat er gesehen.«

»Kinder, weiße Mäuse ..., ist doch sowieso alles dasselbe. Der eine sieht weiße Mäuse, der andere Elefanten oder Kinder. Wer weiß, was mit dem sonst noch alles nicht stimmt.« Elfriede Schmitz sprach in einem Tonfall, der kaum Emotionen verriet, jedenfalls keine positiven.

Unbeeindruckt von den Worten seiner Frau nahm Kugelschmitz selbst den Telefonhörer in die Hand und wählte die Nummer der Polizei. Er hielt den Hörer ans Ohr. »Besetzt? Warte, ich probier’s gleich noch mal.« Doch auch erneutes Wählen brachte keinen Erfolg. Ratlos blickte der Mann seine Frau an.

Die zuckte unwirsch mit den Schultern und maulte: »Kann der Blödmann von nebenan nicht selber bei der Polizei melden, dass er ein Kind gefunden hat, das jetzt – angeblich – über alle Berge ist.«

Es stimmte, sie hatte es nicht so mit Kindern. Nein, alles, was damit zusammenhing, war ihr ein richtiges Ärgernis. Sobald Kinder in den Laden kamen, ob mit oder ohne erwachsene Begleitung, war ihr Argwohn geweckt. Diese ihrer Meinung nach unerzogenen Gören rannten überall in den Gängen herum und rissen Waren aus den Regalen. Wenn es dann klirrte und schepperte, brüllten sie wie am Spieß und zu guter Letzt sah es so aus, als sei sie, die Ladeninhaberin, Schuld an dem Malheur und habe es sogar darauf angelegt, dass sich die Kinder an den Flaschenscherben schnitten. Auf ihrem materiellen Schaden blieb sie ohnehin selber sitzen. Niemand wollte ihr den ersetzen.

Nein, sie sagte es frei heraus: Kinder waren ihr ein Gräuel und wenn möglich, sollte man überhaupt verbieten, dass sie frei herumliefen. Weggesperrt gehörten die, auf immer und ewig! Jawohl. Und so ein Aufhebens um ein fremdes Kind, das schmeckte ihr schon gar nicht. Doch es war, wie sie wusste, nicht leicht, das ihrem Ehemann klarzumachen, gefühlsduselig wie er sich gebärdete.

Sie hatte ihn damals, nachdem er als Fremder in die Stadt gezogen war und sie sich beide kennengelernt hatten, sofort geheiratet, wenn auch unter der Bedingung, dass sie nie, niemals Kinder haben wollte. Anfangs war er ihr stets und ständig mit seinen Fragen auf die Nerven gegangen, was wohl der Grund für ihre Aversion gegenüber Kindern sei. Er selbst hätte doch so gerne wenigstens ein einziges eigenes Kind gehabt und er fand, sie sei doch nun auch noch in den besten Jahren. Ja gut, nicht mehr ganz jung, aber auch noch nicht so alt, dass sie kein Kind mehr würde austragen können. Doch sie hatte darauf bestanden, dass es keine besonderen Gründe gab. Sie hasste Kinder von Grund auf und damit basta.

Kugelschmitz hatte bald eingesehen, dass es sinnlos war, endlos zu bohren und zu bohren. Er hatte sich abgefunden damit, keine eigenen Kinder zu haben. Seine Frau und er waren auch so ganz zufrieden zusammen, und der Laden warf gerade eben so viel ab, dass sie beide ein bescheidenes Leben führen konnten.

Sie, also seine Frau, dankte es ihm damit, dass sie sich fleißig und unermüdlich neben ihrem Mann abrackerte. Es gab so viel zu tun: Waren trotz aller verordneter Engpässe ordern, die Behörden besänftigen, die Kunden bei der Stange halten, ... Und wer weiß, wie lange ihnen der Staat den Laden überhaupt noch ließ. Die setzten alle Hebel in Bewegung, um ihnen das Leben so schwer wie möglich zu machen, damit sie endlich ihr Geschäft aufgaben. Sie hatten demzufolge schon genügend andere Sorgen.

Kugelschmitz selbst schaute immer wieder verstohlen und sehnsüchtig zu den Kindern hinüber, die gelegentlich mit ihren Eltern in den Laden kamen. Er schenkte ihnen heimlich Bonbons und Schokolade, wenn die Frau nicht hinsah und strich ihnen liebevoll über den Kopf.

»Hör gefälligst auf, dich um fremde Angelegenheiten zu kümmern!«, schimpfte seine Frau jetzt zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Als ob wir nicht mit uns selbst genug zu tun hätten.«

»Sie hat ja Recht«, ging es dem Mann durch den Kopf. Was mischte er sich auch ständig in Dinge ein, die ihn nichts angingen. Sie hatten fürwahr kein leichtes Leben.

In der Zwischenzeit war der Inhaber des angrenzenden Geschäftes wiederum eingetreten. »Habt ihr die Polizei angerufen?«, fragte er.

Kugelschmitz nickte. »Ich hab’s versucht, aber da geht keiner ran. Was machen wir jetzt?«

Die Ladeninhaberin Elfriede Schmitz gähnte herzhaft und mit offenem Mund, der die anwesenden Männer an ein aufgesperrtes Haifischmaul erinnerte. »Macht, was ihr wollt«, erklärte sie. »Ich kann mich nicht den ganzen Tag lang um ein Kind kümmern, das es vermutlich gar nicht gibt. Die viele Arbeit hier macht sich nicht von alleine.« Sie ging schlurfenden Schrittes beiseite und machte sich an den Regalen zu schaffen, rückte hier ein Päckchen Nudeln zurecht und wischte dort ein wenig Staub weg.

Die Männer schauten einander ratlos an. Doch noch bevor sie einen Entschluss fassen konnten, ging die Ladenglocke. Ja, in diesen Läden, deren Einrichtung aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen schien, gab es noch so etwas wie Ladenglocken, die anzeigten, dass ein Kunde den Laden betrat.

Den Augen der drei bot sich nun Unglaubliches dar, denn eine Farbexplosion auf zwei Beinen betrat das Geschäft.

Die Ladeninhaberin fand als Erstes ihre Sprache wieder. »Einen wunderschönen guten Morgen, was wünscht der Herr«, leierte sie wie aufgezogen den Standardspruch herunter, der ihr in Fleisch und Blut übergegangen war. Aber diesmal stockte sie kurz bei dem Wort »Herr«. Passte diese Anrede zu dem Aufzug des Mannes?

Jedes Kind erkannte, dass es sich um einen Clown handelte. Die dicke, rote, runde Nase, die weiß geschminkten und schwarz umrandeten Augen, der rote, breite Mund, die hellgrüne Kappe auf dem Kopf, unter der die künstliche, orangerote Haarmähne hervorquoll...

»Also, was wünschen Sie«, wiederholte Elfriede Schmitz, indem sie dem bunten Wesen geradewegs in sein Clownsgesicht schaute.

Der Clown erwiderte ihren Blick. Dann öffnete er den roten Mund und sagte ernst: »Ich ..., ich brauche Draht, ganz, ganz dünnen Draht. Haben Sie so etwas hier?«

»Wie bitte? Was?« Die Geschäftsinhaberin riss verblüfft die Augen auf.

»Oder führen sie so etwas nicht?« Der Clown wirkte plötzlich gehemmt, so als habe er begriffen, dass es aus einem nicht näher zu erklärenden Grund nicht gern gesehen war, wenn man in einem ganz gewöhnlichen Gemischtwarenladen nach Draht fragte. Abgesehen davon, dass man ohnehin nie wusste, ob man das Gewünschte auch wirklich bekam, war er es gewohnt, dass man Leuten vom Zirkus mit Misstrauen begegnete.

»Wozu um Gotteswillen brauchen Sie denn überhaupt Draht?«, fragte Kugelschmitz unverhohlen argwöhnisch. »Ja, was wollen Sie als ..., als Zirkusclown mit Draht? Sie sind ja wohl kein Handwerker.«

Der Clown senkte den Kopf und zuckte unmerklich mit den Schultern. Er sah fast ein bisschen niedergeschlagen aus.

»Nicht, dass Sie sich mit dem Draht was antun wollen«, mischte sich jetzt der Mann aus dem Nachbarladen ein. »Es soll ja Leute geben, die sich daran aufhängen.« Er machte eine Geste, als zöge er sich eine Schlinge um den Hals. »Oder wollen Sie den Draht vielleicht über den Bürgersteig spannen, so dass ahnungslose Leute darüber stolpern? Solche wie Sie sind ja zu allen möglichen Späßen fähig. Das weiß man doch!«

Der Clown begriff, dass man ihm hier nichts verkaufen wollte. »Danke«, sagte er einfach, obwohl er gar nichts bekommen hatte. Dann wandte er sich um und lief etwas unbeholfen in Richtung Ausgang. Wahrscheinlich hinderten ihn seine unförmigen Hosen daran, eine normalere Gangart einzuschlagen.

»Sie haben noch nicht auf meine Frage geantwortet!«, rief ihm Kugelschmitz lauter als nötig und in einem um Heiterkeit bemühten Tonfall hinterher. »Wozu brauchen Sie Draht? Sie als Clown?«

Daraufhin murmelte der Clown etwas, das sich anhörte wie: »Für meine Kaninchen.« Aber alle drei waren sich nicht sicher, ob sie es richtig verstanden hatten.

»Mal eine andere Frage«, warf Kugelschmitz mit hinter seine Latzhosenträger geklemmten Daumen in wichtigem Tonfall dazwischen. »Haben Sie vielleicht ein kleines Kind gesehen? Mit einer graugrünen Wollmütze?« Und an den Mann des Nachbarladens gewandt setzte er hinzu: »Es hatte doch eine graugrüne Wollmütze auf, sagtest du?«

Der Clown drehte sich um. Seine Augen wirkten starr unter der weißen Schminke. Dass er nicht gleich etwas entgegnete, ließ in den drei Anwesenden ein unbehagliches Gefühl aufkommen. Dann zuckte der buntgekleidete Mann mit den Schultern, was ganz klar als »Nein, keine Ahnung!« verstanden wurde, sagte schließlich »Auf Wiedersehen« und verließ langsam den Laden.

Alle drei starrten ihm nach.

»Der war unheimlich«, murmelte die Ladeninhaberin halblaut, so als fürchtete sie, der Clown könnte sie noch hören, obschon sich die Ladentür doch schon hinter ihm geschlossen hatte.

»Wozu braucht so einer Draht?«, wunderte sich Kugelschmitz, der Ehemann der Ladeninhaberin. »Gut, dass du ihm keinen verkauft hast. Sowieso ist ja die letzte Rolle Draht hinten im Lager schon für Eddi aus dem Holzlager reserviert ..., als Tauschobjekt für die Dielenbretter ... Aber mal abgesehen davon, man weiß nie, was so ein Typ damit anstellt.«

»Kann sein, er brauchte es für einen Zaubertrick«, warf der Ladennachbar ein, der vorhin den Jungen zwischen den Bierkisten entdeckt hatte. »Hat er nicht irgendwas von Kaninchen gefaselt? Zauberer lassen ja gern mal weiße Kaninchen verschwinden.«

»Das war ein Clown und kein Zauberer«, stellte die Ladeninhaberin Elfriede Schmitz richtig. »Clowns können nicht zaubern, die machen bloß lauter Blödsinn.«

Beide Männer zuckten die Schultern.

»Vielleicht wollte er sich ein Kaninchen fangen, mit einer Drahtschlinge ..., als Sonntagsbraten ...«, sinnierte Kugelschmitz. »Aber ich frage mich: Hat er nun das Kind gesehen oder hat er es nicht gesehen? Er hat mit den Schultern gezuckt, das habt ihr auch gesehen, oder?«

Die anderen beiden nickten.

»Würd mich nicht wundern, wenn der was mit dem Kind zu schaffen hat.« Der Ehemann der Ladenbesitzerin nestelte am Träger seiner Latzhose. »Ist vielleicht seins. Jedenfalls könnt ich mir vorstellen, dass es aus dem Zirkus fortgelaufen ist.«

Als sich die beiden Männer und die Frau wiederum ihren üblichen Tätigkeiten zugewandt hatten, schellte die Ladenglocke erneut. Aus den Augenwinkeln sahen die drei, dass der Clown noch einmal zurückgekommen war, die kurze Entfernung zur Ladentheke mit ein, zwei Schritten durchmaß und einen winzigen Gegenstand auf den Tisch legte.

»Hier bitte, das haben Sie sicher draußen verloren«, sagte er. Sonst nichts. Dann verschwand er, wie er gekommen war, wortlos.

Die Ladenglocke bimmelte noch ein Weilchen vor sich hin. Dann wagte einer nach dem anderen, den Kopf zu heben und zur Ladentheke hinüber zu schauen. Und da lag es, ein blaues, unscheinbares Feuerzeug, mitten auf dem Tisch.

»So ein Idiot. Das hätte er doch behalten können«, sprach die Ladeninhaberin stirnrunzelnd. Und der Mann aus dem Nachbarladen nickte bekräftigend. Feuerzeuge waren schließlich Mangelware, die schenkte man nicht einfach her.

»Hoffentlich kommt der nicht wieder, dieser komische Kerl«, nuschelte Kugelschmitz und ließ das kleine Feuerzeug, nachdem er es ausgiebig von allen Seiten betrachtet hatte, in seine Latzhosentasche gleiten. Dann richtete er sich an den Inhaber des Nachbarladens: »Los, lass uns doch lieber gleich zur Polizei gehen. Wir melden die Sache mit dem Kind. Dann haben wir das vom Tisch und man muss sich keine Gedanken mehr darüber machen.«

Der Nachbar, der das Kind entdeckt hatte, wehrte ab. »Ich kann nicht weg. Nachher kommt noch Ware. Am besten gehst du.«

»In Ordnung!« Kugelschmitz, der Ehepartner der Ladeninhaberin Elfriede Schmitz, schritt, ohne sich umzudrehen zur Ladentür, begleitet vom unfreundlichen Gezeter seiner Ehefrau, die ihm zum hundertsten Male vorhielt, dass er sich viel zu viel um fremde Angelegenheiten sorgte. Aber der Mann beachtete sie nicht. Die Glocke bimmelte durchdringend, als er die Türe öffnete und hinter sich wieder schloss.

***

»Wenn Sie mir jetzt nicht auf der Stelle sagen, wieso sie unerlaubt in das Zirkusgelände eingedrungen sind«, rufe ich die Polizei. Das, was Sie gemacht haben, ist Hausfriedensbruch, das wissen Sie!«

Brigida stand da mit gesenktem Kopf. Sie vermied es, den Mann hinter dem altmodischen Schreibtisch anzuschauen. Wasser troff aus ihren vom Regen durchnässten Kleidern auf den Boden und bildete eine kleine Pfütze auf dem abgenutzten Linoleum. Sie fror, denn der Wohnwagenraum, in dem das Gespräch stattfand, war nicht geheizt. »Zirkusdirektion« hatte draußen an der Tür gestanden und Brigida vermutete ganz richtig, dass sie es hier mit dem Direktor des Zirkus zu tun hatte.

»Aber ich habe es Ihnen doch schon ein paar Mal gesagt«, setzte Brigida zu einer Erklärung an und es war mit Sicherheit nicht die erste dieser Art.

»Was haben Sie gesagt? Wollen Sie mir etwa zum ixten Male dieses Märchen von einem verschwundenen Kind auftischen, das Sie, angeblich, gesucht haben wollen?« Der Direktor hatte sehr sarkastisch gesprochen und ließ wie zur Bekräftigung seiner Worte eine Faust auf die Tischplatte krachen.

»Nein, nein, das ist gar kein Märchen, es stimmt.« Brigida rang verzweifelt die Hände.

»Aha! Und das entlaufene Kind suchen Sie ausgerechnet bei strömendem Regen in einem Tigerkäfig. Natürlich, wo soll man auch sonst nach einem Kind suchen? Nein, ich sage Ihnen, was Sie vorhatten. Sie wollten hier rumschnüffeln. Wollten auskundschaften, wie man am besten was klauen kann!«

»Nein, so ist es nicht«, wagte Brigida einigermaßen energisch zu entgegnen, aber schon wieder schnitt ihr der Mann harsch das Wort ab.

»So ist es nicht? Ich hab doch mit eigenen Augen gesehen, wie Sie sich am Gitter zu schaffen gemacht haben. Wäre ich nicht dazugekommen, hätten Sie die Tür aufgemacht. Es war reiner Zufall, dass ich Sie beobachtet habe und Schlimmeres verhindern konnte.«

»Bitte, lassen Sie mich doch ausreden.« Brigidas Stimme zitterte.

Sichtlich entrüstet verschränkte der Direktor beide Arme vor der Brust und bedachte die vor ihm stehende junge Frau mit den nassen, zerzausten, blonden Haaren mit wütenden Blicken.

»Also, ich höre?«

»Ich habe mir doch nur Sorgen gemacht«, begann Brigida und ihrer Stimme war anzuhören, wie sehr sie sich bemühte, dieser Sorge auch entsprechenden Ausdruck zu verleihen. »Ja, ich hab mir Sorgen gemacht, dass der kleine Junge, der heute in der Früh mutterseelenallein vor meinem Kiosk aufgetaucht ist, sich einfach verlaufen hat. Im Tigerkäfig habe ich eine Stimme gehört. Es hörte sich wie eine Kinderstimme an. Ich wollte doch nicht hineingehen. Ich wollte nur lauschen, ob da ein Kind drinnen ist. Vielleicht gehört es hierher in den Zirkus. Das würde erklären, dass es sich vor den Tigern nicht fürchtet. Ich wollte Sie einfach fragen, ob Sie eventuell ein Kind vermissen?«

Der Mann hinter dem Schreibtisch holte tief Luft und Brigida erwartete eine scharfe Entgegnung auf ihre Worte. Doch der Zirkuschef zügelte sein Temperament, er rang um Beherrschung. »Jaja, alle glauben immer nur, hier beim Zirkus geht es drunter und drüber«, sagte er merklich resigniert. »Die Leute denken, wir stehlen und wir sorgen nicht für unsere Kinder. Keine Ahnung, was Sie da im Tigerkäfig gehört haben. Ein Kind war's jedenfalls nicht. Die Tierpfleger lassen manchmal das Radio an, vielleicht kam die Kinderstimme von daher. Das wäre gut möglich.«

Brigida schwieg. Stattdessen blickte sie den Zirkusdirektor freundlich an und bemühte sich, ihm das Gefühl zu geben, dass sie selbst nicht zu den Menschen gehörte, die eine derart schlechte Meinung von Zirkusleuten hegten.

»Und Sie«, äußerte der Mann kopfschüttelnd, »Sie denken auch nicht anders von uns. Sie haben keine Achtung vor unserer Arbeit. Schleichen sich frech hier rein, um sich kostenlos alles anzusehen.«

Brigida schüttelte heftig mit dem Kopf. »Nein, nein, das war ganz unbeabsichtigt, ich habe ja nicht gewusst, dass Sie jetzt um diese Zeit für die Vorstellung proben. Ich wollte nur nach dem Kind fragen, aber dann war keiner da und deshalb habe ich mich hingesetzt und auf einmal begann die Probe.«

»Und dann sind Sie einfach sitzengeblieben«, stellte der Mann nüchtern fest.

»Ja«, bestätigte Brigida, denn es war die Wahrheit.

»... und haben sich kostenlos die ganze Vorstellung angeschaut.« Der Direktor runzelte ärgerlich sie Stirn. »Ich hoffe, sie haben sich dabei gut unterhalten?«

»Ja schon«, gab Brigida zu, ohne auf die Ironie in der Frage einzugehen. »Vor allem die Darbietung mit den Kaninchen und den größeren Tieren war schon, wie soll ich

sagen, ziemlich außergewöhnlich und, wie ich fand, sehr beeindruckend.«

»Kaninchen?« Der Direktor ruckte belustigt mit dem Kopf. »Kaninchen? Hier bei uns im Zirkus gibt's keine Kaninchen. Höchstens als Braten auf dem Mittagstisch, hahaha ...«

Der Mann lachte schallend über seinen eigenen Witz, brach jedoch abrupt ab, als er sah, dass Brigida nicht mitlachte. Umgehend wurde er wieder ernst. »Kaufen Sie sich mal eine Brille oder übertreiben Sie es nicht so mit dem Alkohol.« Aus zusammengekniffenen Augen sah er Brigida misstrauisch an.

»Na hören Sie mal!« Brigida schnappte entrüstet nach Luft.

»Ich hab genug gehört!« Der Mann machte mit dem rechten Arm eine Geste, als schnitte er die Luft in diesem Raum in zwei Teile. »Hören Sie jetzt mal, Sie haben ja wohl nicht alle Tassen im Schrank. Keine Ahnung, wo Sie gewesen sind. Hier bestimmt nicht. Kaninchen gibt es hier nicht, und damit basta.«

»Aber in der Manege, das waren doch ...? Brigida wedelte hilflos mit beiden Händen. »Da waren, also da waren mindestens zwanzig weiße Kaninchen, zusammen mit den Elefanten und ...«